Hexagonales Wasser – Humbug mit Heilversprechen

Die Erzählung vom Wasser mit Gedächtnis trägt viele verschiedene Titel und ist schon einige Jahrzehnte alt. Auch das sog. hexagonale Wasser ist ein solch besonderes Wasser. Angeblich ein Wundermittel, das durch seine spezielle Struktur Informationen speichern kann und heilend wirkt. Sogar von einem neuen – vierten Aggregatzustand ist die Rede.

Wasser in flüssigem Aggregatzustand
Wasser in flüssigem Aggregatzustand (Quelle: pexels)

Den Begriffen Polywasser, hexagonales Wasser, strukturiertes Wasser, belebtes Wasser, 4th Phase Water, Exclusion Zone Water (EZ-Wasser), H9-Wasser und vielen anderen ist eines gemein: Sie beschreiben Wasser im flüssigen Zustand, das durch eine definierte Anordnung der Wassermoleküle eine bestimmte Struktur einnimmt. Innerhalb dieser Struktur soll es dann möglich sein, Informationen oder Energie zu speichern. Die These einer definierten Struktur in Flüssigkeiten ist einigermaßen verblüffend, denn eine solche Fernordnung der Moleküle ist schlecht mit der Dynamik zu vereinbaren, die in diesem Aggregatzustand vorherrscht.

Ein Potpourri heilsamer Wirkungen

Dass also gar wundersame Kräfte am Werk sein müssen, um diesen Verband der Wasserteilchen zusammenzuhalten, scheint den VertreterInnen des strukturierten Wassers klar zu sein, denn es wird geradezu als magisch angepriesen: Als „Der heilige Gral der Gesundheit“ [1], als eines der „beeindruckendsten wissenschaftlichen Phänomene der letzten Jahre“ [2], „Ohne EZ-Wasser kein Leben.“ [3]. „Die besondere hexagonale Struktur bedingt, dass sich selbst Öle im Wasser lösen.“ [4], das hexagonale Wasser „reinigt sich von selbst“ [5].

„Studien zufolge hat sich hexagonales Wasser als wirksam bei der Vorbeugung und Behandlung von Krebs, Diabetes, Alterung und AIDS erwiesen.“ [6] „Hexagonales Wasser ist die natürliche Form des Wassers wie wir es in Gebirgsbächen und heiligen Quellen finden. Die falsche Behandlung des Menschen führt aber dazu, dass unser Trinkwasser aus der Leitung oder aus dem Supermarkt nicht in hexagonaler Struktur vorliegt, sondern die Moleküle rechtwinklig angeordnet sind.“ [7]

Um die Bedeutung dieses speziellen Wassers sogar in noch globalere Zusammenhänge zu setzen, wird sogar die Frage aufgeworfen, ob „ewiges Eis schmilzt, um dem globalen Wasserkreislauf mehr hexagonale Strukturen zur Verfügung zu stellen?“ [8]. Große Versprechungen. Das wirft natürlich Fragen auf: Woher kommt das hexagonale Wasser, wie kann man es herstellen? Und worin genau besteht der Unterschied zu „normalem“ Wasser?

Strukturmodell des hexagonalen Wassers

Die hexagonale Struktur soll es also sein, die das Wasser so besonders macht. Das postulierte Strukturmodell geht dabei hauptsächlich zurück auf den amerikanischen Wissenschaftler Gerald Pollack [9]. Er untersucht die Wechselwirkung von sehr dünnen Wasserschichten an unterschiedlichen Oberflächen. Aus diesen Erkenntnissen leitet er die Existenz einer neuen Wasserphase ab, die er die vierte Phase (neben den drei allgemein bekannten Phasen fest, flüssig und gasförmig) oder „Exclusion Zone Water“ nennt. Diese Phase soll geordnet in hexagonalen Schichten vorliegen.

(a): Schematische Darstellung des Wassermonomers und Berechnung der Summenformel und Ladung; (b): Darstellung der Stapelung der Wasserschichten. (Quelle: [9], eigene Abbildung)

Aus der abgebildeten Struktur (linker Teil der Abbildung, (a)) ermittelt Pollack eine neue Summenformel für das Wasser-Monomer, die dann nicht mehr H2O sondern H3O2 wäre. Jedes dieser Sechsringe bekäme dann eine negative Ladung zugeordnet. Die Hexagone können zu Schichten kondensiert und übereinandergestapelt werden (rechter Teil der Abbildung, (b)) und so. die sog. Exclusion Zone (EZ, dt. Ausschlusszone) bilden. Pollack beschreibt diese Zone als einen Bereich, der absolut frei von im restlichen Wasser gelösten Bestandteilen vorliegt. In der EZ, einer etwa 100-200 μm breiten Zone, dominieren die Wechselwirkungen der Wassermoleküle mit dem Trägermaterial sowie die Wechselwirkungen innerhalb einer Schicht und zwischen den einzelnen Schichten.

Da der Bereich der EZ keine weiteren Bestandteile als H3O2 enthält, würde er eine bislang ungesehen große Anhäufung von negativer Ladung darstellen, denn jedes Hexagon ist wie beschrieben negativ geladen. Diese Ladung wird nicht etwa, wie man annehmen könnte, durch die aus H2O formal übrig gebliebenen H+-Ionen ausgeglichen, sondern – und spätestens jetzt wird es esoterisch – liegt als Elektronenplasma delokalisiert im oder um das Netz vor. Sozusagen als Elektronenspirit.

Die Wasserjünger sehen darin die Lösung für Übersäuerung im Körper, freie Radikale, krankmachende Frequenzen, elektromagnetische Wellen und Signale und sogar negative Gedanken sollen darin aufgenommen werden.

Je nach Interpretation des Pollack`schen Modells werden diese negativen Einflüsse dann direkt im hexagonalen Wasser „neutralisiert“, oder es wird ein positiv geladenes Restwasser herbeigeredet, das alles Schädliche löst und wegspült. Aus Pollack`s ohnehin schon zweifelhaftem Modell einer Wasserphase, die in sehr kleinen Bereichen an Grenzflächen vorliegen soll, wird ohne jegliche weitere Erklärung ein Wasser, dessen gesamte Struktur als hexagonale Netze vorliegen soll.

Auch in der Frage, wie es sich mit der Energie des strukturierten Wassers verhält, werden unterschiedliche Ansätze vertreten. Während die einen gehen davon ausgehen, dass das mehr Ordnung in einem System mit einer Energieerniedrigung einhergeht, gehen andere davon aus, dass das hexagonale Wasser wertvoller und damit energiereicher sein muss.

Wunderwasser selbst herstellen?

In einem Punkt sind sie sich jedoch alle wieder einig: Ein Allheilmittel wie das hexagonale Wasser muss jedem zugänglich sein. Und darum bemühen sie sich redlich. Auf dem Markt sind sowohl fertige Produkte wie Sprays oder Gele, als auch eine beträchtliche Reihe von technischen Geräten zum Herstellen von strukturiertem Wasser erhältlich. Vom einfachen Verwirbler bis zur Anlage für Mehrfamilienhäuser wird alles angeboten.

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Überblick über Produkte mit oder zur Herstellung von hexagonalem Wasser.

Auch einige Erholungszentren werben mit speziell angefertigten Ruhesesseln, die von hexagonalem Wasser umflossen werden. Für etwa 50 € pro halbe Stunde kann man sich in den sog. Recreation Lounges [10] entspannen. Deutschlandweit an 15 Standorten, Heilversprechen inklusive.

Die Werbung mit „wissenschaftlichen“ Belegen ist irreführend

Die Werbung für Produkte und Anwendungen mit hexagonalem Wasser spricht immer wieder von wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien und impliziert, dass hier neue Erkenntnisse aus der Forschung vorlägen.

Dies betrifft zum einen die Verwendung von wissenschaftlichen Fachbegriffen. So werden z. B. Entropie, Plasma, Wellenlänge, Feldharmonisierung ohne Erklärung verwendet, um den Anschein eines wissenschaftlichen Kontextes zu erzeugen. So wird z. B. postuliert, das hexagonale Wasser habe eine niedrigere Frequenz als normales Leitungswasser [11]. Was soll die erwähnte Frequenz bedeuten? Sind damit die Eigenschwingungen der O-H-Bindung gemeint? Oder emittiert das Wasser gar Strahlung?

An anderer Stelle [12] wird behauptet, durch die Strukturierung verbessere sich der „Redoxwert“ des Wassers. Einen solchen Wert gibt es nicht. Gemeint ist wahrscheinlich das Standardpotential, welches für ein sog. Redoxpaar (z. B. Cu/Cu2+) angegeben wird. Im Zusammenhang mit Sauerstoff ist das Redoxpaar O2-/(1/2) O2 relevant. Die Reaktion ist Teil unserer Zellatmung. Veratmet wird jedoch der Luftsauerstoff (O2), und nicht der Sauerstoff aus dem Wasser (O2-). Soll der verbesserte „Redoxwert“ im hexagonalen Wasser etwa implizieren, dass sich das Wasser am Atmungsprozess beteiligt? Das wäre natürlich wirklich phänomenal.

Auch die falsche Verwendung von Bildern oder Abbildungen ist irreführend. So werden zur Illustration und zum Stützen der Behauptung, es gäbe eine hexagonale Wasserstruktur verblüffend oft Fotos von Eiskristallen gezeigt. Damit wird der Wechsel zu einem anderen Aggregatzustand schlicht unterschlagen. Und es wird impliziert, dass flüssiges Wasser die gleichen Eigenschaften besitzt wie festes Eis.

Aufnahme eines Eiskristalls mit sechszähliger Dreachse (hexagonale Symmetrie).
Aufnahme eines Eiskristalls mit sechszähliger Drehachse (hexagonale Symmetrie).(Quelle: Gerd Altmann, pixabay)

In manchen Fällen wird fundierte wissenschaftliche Literatur angeführt, die das eigentliche Thema jedoch nur geringfügig tangiert und keinesfalls als wissenschaftlicher Beleg für die eigenen Thesen gilt. Dabei kommen Begriffe wie „Wasserstoffbrücken“, „Cluster“ oder „Anomalie von Wasser“ zwar im Titel der Publikationen vor, der eigentliche Inhalt spricht aber in keinem der Fälle [13-17] von hexagonal geschichteten Wasserstrukturen, vielmehr wird der Begriff nicht einmal erwähnt.

Die wissenschaftliche Grundlage und aktuelle Wasserforschung: Was ist wirklich erforscht?

Einige besondere Eigenschaften hat unser Wasser tatsächlich zu bieten: Viele Stoffe sind in Wasser sehr gut löslich, Wasser hat einen vergleichsweise (z. B. mit EtOH) hohen Schmelz- und Siedepunkt. Die temperaturabhängige Änderung der Viskosität ist spannend, Wasser leitet den elektrischen Strom auch ohne zugesetzte Ladungsträger (Salze) und hat seine maximale Dichte nicht wie andere Stoffe am Gefrierpunkt, also bei 0 °C, sondern bei 4 °C. Deshalb ist Eis leichter als Wasser und Seen gefrieren von oben nach unten.

Das sind zwar im Vergleich zu anderen Flüssigkeiten außergewöhnliche Anomalitäten, doch herrscht wissenschaftlich keineswegs Unklarheit darüber, wieso Wasser sich so verhält. Die Temperaturabhängigkeit der Dichte oder das Verhalten des Schmelzpunktes z. B. stehen im Einklang mit der Tatsache, dass Wasser (H2O) auch zu einem kleinen Anteil auch die schwereren Wasserstoff-Isotope Deuterium (D) und Tritium (T) enthält, die die Werte beeinflussen (Smp. (D2O): 3,8 °C, Smp. (T2O): 4,5 °C). [18]

In aller Munde sind immer wieder die berühmten Wasserstoffbrücken (H-Brücken). Diese beruhen auf der Wechselwirkung zwischen dem partiell negativ geladenen Sauerstoff und dem partiell positiv geladenen Wasserstoff der H2O-Moleküle.

(a): Darstellung des Wassermoleküls; (b): Ilustration von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Wassermolekülen (Quelle: [19], eigene Abbildung)

Es ist wichtig, zu verstehen, dass es sich bei den Wasserstoff-Brücken nicht um „echte“ Bindungen handelt, sondern um eine recht schwache Wechselwirkung, nicht zu vergleichen mit der Bindungsstärke einer kovalenten Bindung, wie sie zwischen Sauerstoff und Wasserstoff innerhalb eines Moleküls existiert. H-Brücken machen etwa 10 % eines solchen Wertes aus [19].

Die Wechselwirkungen kommen nicht nur in Wasser vor, sondern auch in Alkoholen, Aminen und manchen Säuren (z. B. Essigsäure CH3COOH). Sie sind verantwortlich dafür, dass unsere DNA als Doppelhelix und nicht als Einzelstrang vorliegt und bedingen die räumliche Struktur von Proteinen. H-Brücken treten nicht nur zwischen Sauerstoff und Wasserstoff auf, sondern z. B. auch zwischen Molekülen mit –NH- oder –SH-Gruppen. Sie können Strukturen stabilisieren, sind aber niemals ohne zusätzliche Bindungen oder Wechselwirkungen strukturbestimmend.

Seit vielen Jahren existieren Untersuchungen über die Auswirkungen von H-Brücken auf den Zusammenhalt von Wassermolekülen. Für derartige Untersuchungen braucht man eine Methode, die sehr kurze Zeitintervalle betrachten kann, weil H-Brücken sich sehr schnell bilden und wieder lösen.

Das kann man sich so vorstellen, als wolle man bei wenig Licht ein Foto machen. Die Belichtungszeit ist dann entsprechend lange und sowohl Objekt als auch Kamera dürfen sich nicht bewegen, damit das Bild scharf wird. Bewegung führt zu unscharfen Bildern. Wasserstoffbrücken sind sehr dynamisch. Sie existieren nur einige Pikosekunden (1 ps = 10-12 s). Das ist eine ungeheuer kleine Zeitspanne; der millionste Teil einer Millionstel Sekunde, um genau zu sein. Danach erfolgt die Bildung einer neuen Wasserstoffbrücke.

Eine Methode zur Untersuchung von derart schnellen Dynamiken ist die Schwingungs- Rotations-Tunnel-Spektroskopie im fernen Infrarotbereich (FIR-VRT). Damit lassen sich tatsächlich kleine Wassercluster beobachten [14, 15, 20]. Quantenchemische Berechnungen (ab-initio- und DFT-Methoden) liefern Aussagen über die thermodynamische Stabilität dieser Cluster. Die Rechnungen bestätigen die experimentell ermittelten Cluster und machen Voraussagen zur Stabilität von größeren Oligomeren, die mittels Spektroskopie nicht gefunden wurden. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass für jedes Oligomer mehrere Cluster denkbar sind, die sich energetisch geringfügig voneinander unterscheiden [20, 21].

Darstellung der berechneten Strukturisomere des Wasserhexamers (Quelle: [15])

Für das Hexamer wurden fünf Isomere berechnet, im Energie-Ranking liegt der Ring (die strukturelle Einheit der hexagonalen Schichten aus Pollack`s Strukturmodell) an vorletzter Stelle. Das Auftreten des Rings wurde einzig bei sehr speziellen Bedingungen, nämlich in flüssigem Helium (unterhalb von -269 °C) beobachtet [22]. Größere Verbände aus Wassermolekülen sind nur in Clathrathydraten bekannt.

Kritik an Pollack`s Strukturmodell

Das wissenschaftliche Interesse von Wasser an Grenzflächen ist groß und wird wie beschrieben mit modernen spektroskopischen Methoden untersucht [23-25]: Moleküldynamiksimulationen ergänzen die experimentell gewonnenen Erkenntnisse [26]. Keine dieser Erkenntnisse ist mit Pollack`s Modell vereinbar.

In der Tat gibt es einige naheliegende Punkte, die das Strukturmodell sehr unwahrscheinlich machen:

  • Die Ladung der Hexagone (und damit der EZ)

Eine Anhäufung von gleichnamiger Ladung ist irrsinnig und hier zudem ein Widerspruch in sich selbst. Denn einerseits ist die Anziehung von negativer Ladung (des O-Atoms) und positiver Ladung (des H-Atoms) die Voraussetzung für die Bildung der H-Brücken, und damit des ganzen Netzwerks. Andererseits soll die gleiche Anziehung zwischen der negativen Ladung des Netzes und der restlichen H+-Ionen nicht stattfinden?

  • Die Planarität der hexagonalen Netze

Strukturgebendes Merkmal aller untersuchter Wasserverbindungen, ob in kleineren Clustern oder in großen Netzwerken wie sie in Eis gefunden werden, ist immer die tetraedrische Koordination des Sauerstoffatoms (vgl. VSEPR-Modell). Schon die Existenz eines einzigen planaren Rings ist thermodynamisch sehr ungünstig. Das Vorliegen von planaren Wasserschichten ist im flüssigen wie im festen Zustand nicht plausibel.

  • Die Isomerie von Oligomeren

Nach Pauling existieren für die Anordnung von N Wassermolekülen theoretisch (3/2)N Isomere.

Ein hochsymmetrisches Netzwerk aus Millionen von Molekülen mit ist also denkbar unwahrscheinlich.

  • Die Lebensdauer der H-Brücken

Findet in Pollack`s Darstellung leider nicht einmal Erwähnung und wird schlicht ausgeblendet.

  • Die Anzahl der Bindungen und H-Brücken

In allen bekannten Strukturen ist jedes O-Atom über kovalente Bindungen mit zwei H-Atomen verknüpft. Zusätzlich ist jedes O-Atom Akzeptor und Donor einer H-Brücke. Diese Bindungssituation geht mit der tetraedrischen Koordination des Sauerstoffs einher. In Pollack`s Modell werden drei Bindungen zu H-Atomen in einer Ebene mit dem O-Atom und eine H-Brücke zur nächsten Ebene postuliert.

Trotz aller Kritik sollte festgehalten werden, dass sich Pollack`s Ausführungen auf die Grenzfläche, die Exclusion Zone, bezieht. Diese umfasst nach seinen Angaben wenige hundert Mikrometer, also einige zehntel Millimeter. Das Modell ist also keineswegs dazu geeignet auf größere Wassermengen übertragen zu werden. Trotzdem ist Pollack regelmäßig Gastredner auf Kongressen und Symposien von Vereinigungen der Alternativmedizin und alternativer Wasserforschung (z. B. Drei-Länder-Wasser-Symposium der DGEIM, 12.11.2013, New Horizons in Water Science – Homeopathy New Evidence, 13. – 14.07.2018, INK Umweltkongress 29. – 30. 3. 2019). In seinen Vorträgen erklärt er sein Strukturmodell und es wird auf traurige Weise deutlich, wie sehr grundlegende Prinzipien der Strukturchemie missachtet werden, weil er offensichtlich keine Ahnung von deren Kenntnis hat (z. B. https://www.youtube.com/watch?v=7SO55sRzzQo . Minute 33-42). Ihm scheint nicht klar zu sein, dass Strukturmodelle auf Basis von gemessenen oder berechneten Daten erstellt werden. Dazu gehören auch die Angaben von Kennwerten wie Bindungsabstände, Bindungswinkel und die Beschreibung der chemischen und geometrischen Umgebung der an der Struktur beteiligten Atome. Er hingegen entwickelt sein Strukturmodell ausgehend von einer Struktur von Eis, die er im Übrigen auch noch falsch verstanden hat. Messungen oder Berechnungen anhand eines simulierten Strukturmodells hat er nicht angefertigt. Das ist ein bisschen wenig in Anbetracht der Behauptung, dass das hexagonale Wasser den vierten Aggregatzustand darstellen soll.

Doch damit nicht genug. Die Behauptungen zu kommerziell vermarktetem hexagonalem Wasser gehen noch viel weiter.

Kritik an hexagonalem Wasser und dessen Herstellung

Mittels Verwirblern, Steinen oder energetisierten Glasscheiben soll es möglich sein, das gesamte Wasser zu strukturieren. Es ist nicht immer schlecht, wenn Menschen an Dinge glauben, die sich der wissenschaftlichen Lehrmeinung entziehen. Aber unter dem Deckmantel von wissenschaftlicher Evidenz darf das nicht geschehen. Die Werbeversprechen für hexagonales Wasser sind wissenschaftlich haltlos und irreführend. Laut Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) ist das sogar gesetzlich verboten.


Literatur:

[1]: https://www.youtube.com/watch?v=B98lmqQHZOU

[2]: https://schoepferinsel.com/hexagonales-wasser-wasserwirbler/

[3]: https://www.brain-effect.com/magazin/ez-wasser

[4]: https://www.biotikon.de/Hexagonales-Wasser.html?msclkid=36801465fedd1c818abc77f9947c2c58&utm_source=bing&utm_medium=cpc&utm_campaign=DE%3A%20Produkte%20(Search)&utm_term=hexagonales%20wasser&utm_content=Hexagonales%20Wasser%20stabilisiert

[5]: https://www.neuro-programmer.de/ez-wasser/

[6]: https://www.aquawissen.de/hexagonales-wasser/

[7]: https://www.sundt.de/blogs/magazin/hexagonales-wasser-herstellen?_pos=1&_sid=1166d5dea&_ss=r

[8]: https://www.hexagonal.com/fluesse-hexagonal-strukturieren/

[9]: G. H. Pollack: Wasser, viel mehr als H2O, VAK Verlags GmbH, Kirchzarten 2014.

[10]: https://recreationlounge.de/

[11]: https://www.hexagonal.com/hexagonales-vs-energetisiertes-wasser/ (aufgerufen am 11.01.2022)

[12]: https://misterwater.eu/hexagonales-wasser-aus-dem-alchimator/?sm-p=954094485

[13]: A. Geiger et al.,Molekulare Eigenschaften und Funktion des Wassers , UniReport – Berichte aus der Forschung der Universität Dortmund, 37: 48-50, 2004.

[14]: F. Keutsch, R. Saykally, Water clusters: Untangling the mysteries of the liquid, one molecule at a time, Proc. Natl. Acad. Sci., 98:10533-10540, 2001.

[15]: R. Ludwig, Wasser: von Clustern in die Flüssigkeit, Angew. Chem., 113: 1856-1876, 2001.

[16]: R. Ludwig, D. Paschek, Wasser: Anomalien und Rätsel, Chem. Unserer Zeit, 39: 164-175, 2005.

[17]: K. Fumino et al., Wasserstoffbrücken in protischen ionischen Flüssigkeiten – Ähnlichkeiten mit Wasser, Angew. Chem., 121: 3230-3233, 2009.

[18]: K. Roth, H2O – Jo mei!, Chem. Unserer Zeit, 47: 108-121, 2013.

[19]: W. Mäntele, Elektrosmog und Ökoboom, Ein naturwissenschaftlicher Blick auf populäres Halbwissen, Springer Verlag, Berlin 2021.

[20]: K. Liu et al., Water Clusters, Science, 271(5251): 929-933, 1996.

[21]: J. Kim, K. S. Kim, Structures, binding energies and spectra of isoenergetic water hexamer clusters: Extensive ab initio studies, J. Chem. Phys., 109: 5886-5895, 1998.

[22] K. Nauta, R. E. Miller, Formation of cyclic water hexamer in liquid helium: The smallest piece of ice, Science, 287: 293-295, 2000.

[23]: J. Penfold, The structure of the surface of pure liquids, Rep. Prog. Phys., 64: 777-814, 2001.

[24]: G. L. Richmond, Molecular bonding and interactions at aqueous surfaces as probed by vibrational sum frequency spectroscopy, Chem. Rev., 102: 2693-2724, 2002.

[25]: K. R. Wilson et al., Investigations of volatile liquid surfaces by synchrotron X-ray spectroscopy of liquid microjets, Rev. Sci. Instr., 75: 725-736, 2004.

[26]: I. F. W. Kuo, C. J. Mundy, An Ab intitio molecular dynamics study of an aqueous liquid-vapor interface, Science, 303: 658-660, 2004.

Element des Monats Dezember: Kupfer

Die Vorweihnachtszeit braucht Glanz und Gloria. Mit reichlich Glow kommt das Kupfer als Element des Monats daher, wobei es natürlich viel mehr kann als einfach nur zu glänzen. Es kann eben auch mal in grün oder blau erstrahlen, und ganz eventuell gibt es sogar Kupferverbindungen, die gänzlich farblos sind.

Kupferschrott mit und ohne Patina (glänzende oder matte Oberfläche)
Kupferschrott mit und ohne Patina (glänzende oder matte Oberfläche) (Quelle: pixabay, alexa)

Kupfer (Cu) ist das erste Element der Gruppe 11 im Periodensystem. Zu dieser sog. Kupfer-Gruppe gehören auch die Elemente Silber (Ag) und Gold (Au). Als schwerstes, aber auch kurzlebigstes Element der Kupfer-Gruppe existiert auch das radioaktive Röntgenium (Rg), das 1994 am Teilchenbeschleuniger UNILAC in Darmstadt erstmals erzeugt wurde. Seine Halbwertszeit liegt im Millisekundenbereich, danach zerfällt es unter Emission von Alphastrahlung.

Die Elemente der Gruppe 11 (Rg ausgeschlossen) werden auch Münzmetalle genannt. Sie weisen moderate Schmelzpunkte um 900 – 1100 °C auf und sind allesamt von edlem Charakter, d. h. sie oxidieren nicht oder nur langsam. Diese Eigenschaft wird anhand des Standardpotentials der Metalle deutlich: Die Werte der Redoxpaare liegen im positiven Bereich, was für eine gute Korrosionsbeständigkeit spricht.

RedoxpaarE0 [V]
Cu/Cu2++ 0.34
Ag/Ag++ 0.80
Au/Au3++ 1.50

Kupfer zeichnet sich außerdem durch seine exzellente elektrische Leitfähigkeit und seine gute Wärmeleitfähigkeit aus. Als reines Metall ist es für viele Anwendungen aufgrund seiner Duktilität sehr geeignet, denn es lässt sich gut formen und walzen. Kupfer ist bis heute ein zentrales Element für Konstruktions- und Funktionswerkstoffe.

Verwendung von Kupfer als Konstruktions- und Funktionswerkstoffe
Verwendung von Kupfer als Konstruktions- und Funktionswerkstoffe (Quelle: dt. Kupferinstitut)

Die ersten Anwendungen des Edelmetalls reichen bis 50 000 v. Chr. zurück. Legierungen mit anderen Metallen konnte man jedoch erst wesentlich später herstellen. Unter den über 400 Kupferlegierungen, die man heute kennt, erlangten v. A. die Bronzen (Cu und Sn) und die Messingphasen (Cu und Zn) Berühmtheit, doch auch die Nickellegierung „Konstantan“ mag Manchem ein Begriff sein. Die Bronzen waren in der Menschheitsgeschichte so bedeutend, dass gleich ein ganzes Zeitalter nach diesen Werkstoffen benannt wurde. Als Edelmetall ist Kupfer nicht ganz günstig. Der Kilopreis hat sich seit dem Frühjahr 2020 nahezu verdoppelt und liegt nun bei 7,83 € pro kg (Quelle: deutsches Kupferinstitut, 15.12.2022). Der Abbau erfolgt hauptsächlich aus südamerikanischen Sulfiden und Oxiden, wobei die Erze z. T. nur sehr geringe Kupfermengen enthalten. Die Hälfte des in Deutschland benötigten Kupfers stammt aus der Rückgewinnung aus Schrott.

Die Bedeutung von Kupfer in physiologischen Prozessen

Kupfer ist für den Menschen als Spurenelement wichtig. Es kommt in einigen Enzymen vor und hat im Wesentlichen die Funktion Elektronen zu übertragen. Hierfür sind v. A. die Oxidationsstufen +I und +II wichtig. So kommt Kupfer z. B. im bekanntesten Enzym der Atmungskette, der Cytochrom-c-Oxidase vor.

Als Cofaktor der Tyrosinase, einem Membranprotein, das in fast allen Lebewesen vorkommt, ist es an der Bildung von Melanin in unserer Haut beteiligt. Fehlt das Enzym, spricht man von Albinismus.

Bei gesunden Menschen wird Kupfer im Magen-Darm-Trakt aus der Nahrung resorbiert. Dabei bedarf es keiner speziellen Ernährung, denn in kleinen Mengen ist das Metall in Getreide, Fleisch, Meerestieren, Pilzen, Nüssen, Rosinen und Schokolade enthalten. Der tägliche Bedarf sinkt mit dem Alter. So brauchen Säuglinge und Kleinkinder 75 μg Cu pro kg Körpergewicht, Schulkinder und Teenager 40 μg/kg und Erwachsene nur noch 20 μg/kg. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt die tägliche Aufnahme von 1 – 1,5 mg Kupfer für Erwachsene, was mit einer ausgewogenen Ernährung mühelos abgedeckt werden kann, denn ein Kupfermangel wird bei gesunden Menschen fast nie beobachtet.

Allerdings sind in Zusammenhang mit Kupfer zwei Stoffwechselkrankheiten bekannt: Bei Morbus Wilson reichert sich Kupfer in der Leber und in anderen Organen an, was durch die Gabe von Kupfer-bindenden Medikamenten wie z. B. Chelatbildnern reguliert werden kann. Ein größeres Problem ist das Menke-Syndrom, eine Kupfer-Mangelerkrankung, die auf einen Gendefekt auf dem X-Chromosom zurückzuführen ist. Leider hilft die Gabe von biologisch gut verwertbarem Kupfer, z. B. in Form von Histidinkomplexen nur sehr bedingt und die Betroffenen sterben in den ersten Lebensjahren. In der Empfängnisverhütung ist die spermizide Wirkung von Kupferionen bekannt.

Die antimikrobielle Wirkung von Kupfer und Kupferverbindungen

Im Obst- und Weinbau werden Kupferverbindungen, meist Kupfersulfatlösungen (CuSO4) zur Vorbeugung und zur Behandlung von Pilzerkrankungen wie Mehltau eingesetzt. Auch in der Tiermedizin kann Kupfersulfat gegen Strahlfäule bei Huftieren verwendet werden.

Ähnlich wie bei Silber wird auch für Kupfer die antimikrobielle Wirkung des reinen Metalls untersucht. Schon im Altertum wurde beobachtet, dass Wasser, das in Kupfergefäßen gelagert wurde, länger haltbar war und sich weniger Algen bildeten als bei der Lagerung von Wasser in Tonkrügen. Allerdings ist hier auch Vorsicht geboten, denn säurehaltige Lebensmittel oxidieren einen beträchtlichen Teil der Kupferoberfläche und hohe Kupferkonzentrationen sind nicht unbedenklich. Die in den 70er und 80er Jahren in Indien aufgetretene „Indische Kinderzirrhose“ beschreibt eine Kupfervergiftung einhergehend mit oft tödlich verlaufenden Leberschäden indischer Babys und Kinder. Unklar ist, ob die Ursache tatsächlich in der Verwendung von Kupfer-Milchkannen lag, oder ob es sich um eine ungewöhnlich hohe Prävalenz des Gendefekts im Zusammenhang mit Morbus Wilson handelte.

Als oberer Grenzwert gibt die WHO einen Wert von 10 mg Cu pro Tag für einen durchschnittlichen Erwachsenen an. Die Trinkwasserverordnung in Deutschland sieht als gesetzlichen Grenzwert 2 mg Kupfer pro Liter Leitungswasser vor. Bei der Aufnahme von hohen Dosen im zeistelligen mg-Bereich erfolgen typische Vergiftungssymptome wie Erbrechen, Kopfschmerzen, Schüttelfrost und ein trockenes brennendes Gefühl im Mund. Als Aufnahmehemmer werden in solchen Fällen D-Pencillamin, Trientine oder hohe Dosen von Zink gegeben.

Die Chemie des Kupfers: von rot bis blau-grün

Die Chemie von Kupfer ist geprägt von typisch metallischen Eigenschaften, also der Neigung Elektronen abzugeben. An Luft oxidieren Kupferoberflächen langsam zu Kupfer(I)-oxid (Cu2O), was dem Metall die typische rotbraune Farbe verleiht und matt erscheint. Elementares Kupfer hingegen ist heller und glänzt. Wohl bekannt ist auch die typisch grüne Patina, die sich auf Kupferoberflächen oft bildet.

Oberer Teil der Freiheitsstatue auf Ellis Island. Gut zu erkennen sind die zusammengesetzten Kupoferpaltten am oberen Arm der Statue.
Oberer Teil der Freiheitsstatue auf Ellis Island. Gut zu erkennen sind die zusammengesetzten Kupferplatten am oberen Arm der Statue. (Quelle: pixabay, Arpan Parikh)

Dies wird insbesondere in Städten beobachtet, wo die Luft viel CO2 und SO2 enthält. Auch chloridhaltige Meeresluft begünstigt die Bildung der Patina, die aus den basischen Carbonaten, Sulfaten und Chloriden (CuCO• Cu(OH)2, CuSO• Cu(OH)2 und CuCl• Cu(OH)2) zusammengesetzt ist.

Die bevorzugten Oxidationsstufen in geläufigen Kupferverbindungen sind +I und +II. Kupfer(I)-Verbindungen können mehr oder weniger ionische Verbindungen wie die Halogenide, Oxide und Sulfide sein. Auch organische Kupfer(I)-Verbindungen wie die Gilman-Cuprate (R2CuLi) sind bekannt. Letztere kommen neben neutralen Organokupferverbindungen (R-Cu) bei C,C-Kupplungsreaktionen zum Einsatz.

Cu(+II) ist die in wässrigem Medium stabilste Wertigkeit des Kupfers. Dies kann mit der hohen Hydratationsenthalpie und der Bildung des blauen Aquakomplexes [Cu(H2O)6]2+ begründet werden. Für Cu2+ existieren zudem eine Reihe weiterer farbenfrohe grüne bis blaue Komplexe, die in der analytischen Chemie als Nachweisreaktionen verwendet werden können.

Auch einige kupferhaltige Malerfarben, wie das Scheelesche Grün, das Pariser Grün sowie die Minerale Malachit und Azurit enthalten Cu2+.

Die kupferhaltigen Minerale Malachit (grün) und Azurit (blau)
Die kupferhaltigen Minerale Malachit (grün) und Azurit (blau)

Neben den schon erwähnten Kupfer(+I)- und (+II)-Verbindungen existieren auch Verbindungen mit Kupfer in der Oxidationsstufe 0, wie z. B. das metastabile Carbonyl Cu2CO6.

Die höheren Oxidationsstufen +III und +IV sind durch starke Oxidationsmittel zugänglich, aber selten.


Literatur:

J. Emsley, Mörderische Elemente, Wiley-VCH, Weinheim 2006.

S. Herres-Pawlis, A. Hoffmann, Sepia, Sonnenbräune und Stromkabel- Kupfer ist überall!, erschienen in Chemie der Elemente, GdCh (Herausgeber), 2019.

B. Schmitz, Die Rolle von Kupfer als nachhaltiger Werkstoff, Deutsches Kupferinstitut (Herausgeber), 2020.

E. Riedel, C. Janiak, Anorganische Chemie, 8. Auflage, de Gruyter, Berlin 2011.

A. F. Holleman, E. Wiberg, Lehrbuch der Anorganischen Chemie, 102. Auflage, de Gruyter, Berlin 2007.

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-01-2005/medizin1-01-2005/

https://www.kupfer.de

Chemie ist, wenn es knallt und stinkt

Weißkittlige Meschen in Laboren und Kolben gefüllt mit wabernden bunten Flüssigkeiten, Explosionen im Reagenzglas oder stinkender gelber Qualm – so wird Chemie oft dargestellt. Die meisten ChemikerInnen arbeiten jedoch gar nicht in Laboren. Was tun sie denn dann? Was erfinden oder entdecken sie und was hat die Welt der Atome und Moleküle mit unserem Alltag zu tun?

Chemie ist die Wissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und den Reaktionen von Stoffen beschäftigt. Eine Naturwissenschaft also.

In der Chemie wird es erst spannend, wenn man genau hinsehen kann. Wenn man beobachten und messen kann und dann zu erklären versucht, warum die Dinge so sind wie sind. Warum Reaktionen ablaufen und wie. Warum manche Stoffe bestimmte Eigenschaften haben, wie z. B. Magnetismus oder Farbigkeit. Und was man damit machen könnte. Wie man diese Eigenschaften, wenn man sie endlich verstanden hat, vielleicht auch verändern könnte. Das hört sich einfach an, ist aber manchmal unendlich kompliziert.

Chemie in unserem Alltag

Es ist uns vielleicht nicht immer bewusst, aber Chemie begegnet uns in unserem Alltag ständig. Die Farbstoffe in Buntstiften wurden z. B. speziell so entwickelt, dass das Rot schön leuchtet und möglichst lange nicht verblasst. Der Wäscheweichspüler, der mit den Wollfasern deiner Kuschelsocken so wechselwirkt, dass sich die Oberfläche weich, aber nicht schmierig anfühlt oder die Babywindel, die bei nur etwa zehn Gramm Eigengewicht mehrere Hundert Milliliter Babyurin binden kann – das sind nur einige wenige Beispiele, die uns das Leben bunt und angenehm machen.

Hinter diesen Erfindungen steckt oft jahrelange Forschung. Manchmal läuft das ganz gezielt ab und ist speziell auf ein bestimmtes Produkt ausgerichtet. Im Falle des Superabsorbers, so nennt man das wasserbindende Material in der Babywindel, wussten die EntwicklerInnen wahrscheinlich ziemlich schnell, wozu man den Stoff mit dem sperrigen Namen Natriumpolyacrylat verwendet werden kann.

Wassermoleküle binden an der Oberfläche des Natriumacrylats.
Wassermoleküle (H2O) binden an der Oberfläche des Natriumacrylats.

Meist ist es aber so, dass eine neue Entdeckung das Ergebnis jahrelanger Grundlagenforschung ist. Die Entwicklung von kompostierbaren Kunststoffen, z. B. auf PLA-Basis (PLA ist ein sogenanntes Polymer aus Milchsäure) hat viele Jahre gedauert und es wird immer noch an der Entwicklung von neuen Stoffen gearbeitet. So hat der große deutsche Chemiekonzern BASF kürzlich einen abbaubaren Kunststoff vorgestellt, mit dem man Papier beschichten kann. Gute Neuigkeiten für das Verpackungsmüll-Problem!

Die neuen mRNA-Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 – die „Corona-Impfstoffe“ – basieren auf mehr als 30-jähriger Forschungserfahrung. Lediglich die Anwendung der Methode als Impfung ist neu.

ForscherInnen sind Teamplayer

In der naturwissenschaftlichen Forschung wird Stück für Stück wird wie bei einem Puzzle ein Teil nach dem anderen zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengefügt. Manche Ecken sind schnell zusammengesetzt, an anderen hängt und hängt man und es geht nicht voran. Seit einigen Jahrzehnten arbeiten ForscherInnen an Universitäten oder in der Industrie interdisziplinär zusammen. D. h. WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Gebieten wie Physik, Chemie, Biologie, Medizin und Pharmazie erarbeiten Lösungen gemeinsam. Die Teilgebiete der Naturwissenschaften werden längst nicht mehr als voneinander getrennt betrachtet.

Die Arbeit im Reinraum oder am Supercomputer

So sind auch die großen Erfindungen, Entdeckungen und Entwicklungen nicht mehr einer Disziplin zuzuordnen. Bei der Entwicklung von Batterien, Akkus und Solarzellen sind PhysikerInnen, ChemikerInnen und KristallographInnen beteiligt. Ihre Arbeit findet hauptsächlich am Computer und manchmal im sogenannten Reinraum statt. Das ist ein spezielles Labor, in dem Temperatur, Luftdruck und Lichtverhältnisse konstant und staubfrei gehalten werden. Die Arbeit findet manchmal sogar in Schutzanzügen mit Atemluftschläuchen statt und ist sehr anstrengend.

Wissenschaftler in einen Reinraum mit gelber Beleuchtung
Wissenschaftler in einen Reinraum mit gelber Beleuchtung (Quelle: https://www.nasa.gov/multimedia/imagegallery/index.html)

Vor einigen Jahren wurde für die Entwicklung der blauen Leuchtdiode (die Abkürzung LED steht für den englischen Begriff Light Emitting Diode) ein Nobelpreis an Materialwissenschaftler vergeben. Auf die blauen LEDs, ohne die auch keine Leuchtdioden mit weißem Licht möglich wären, hatte man jahrzehntelang gewartet. Was heute in Lichterketten für ein paar Euro zu haben ist, hat vor weniger als zehn Jahren die Lehrmeinung revolutioniert und viele ExpertInnen zweifelten lange daran, ob man jemals blaue LEDs haben würde. Die Entwicklung hat viel mit dem Verständnis von Materialeigenschaften zu tun. In der Theorie wusste man ganz genau, wie so ein Stoff beschaffen sein muss, man konnte ihn nur eben lange nicht herstellen. Die Forschung findet auf diesem Teilgebiet hauptsächlich am Computer statt. Durch Modelle kann man berechnen, ob eine Verbindung oder ein System aus verschiedenen Stoffen für eine Anwendung in Frage kommt. Die Rechnungen dauern selbst auf leistungsfähigen Computern mehrere Tage.

Manchmal darf es doch noch die Handarbeit im Labor sein

Die Forschung und Entwicklung in den Bereichen Medizin und Pharmazie sind praxisorientierter. Um z. B. in der Antibiotika-Forschung bessere Wirkstoffe zu entwickeln, müssen sich die ForscherInnen schon selbst ins Labor stellen. Trotzdem werden hier nicht nur Synthese-ChemikerInnen gebraucht. Bis ein neues Medikament auf dem Markt ist, braucht es unter anderem die Mitarbeit von MedizinerInnen, BiologInnen und PharmakologInnen. Chemie ist also nicht immer bunt, laut und gefährlich. Aber das ist auch ganz gut so, denn weniger spannend wird dadurch nicht. Im Gegenteil: je genauer man hinsieht, umso mehr kann man staunen, wie vielfältig sie ist, unsere (chemische) Welt.

Das Beweismittel aus dem Zellkern – DNA-Analyse in der Kriminaltechnik

Es ist an sich nichts Neues, dass anhand von DNA-Spuren TäterInnen überführt oder Opfer identifiziert werden können. Zumindest sofern sich ihre DNA-Sequenz in der polizeilichen Datenbank befindet. Zwei neuere Methoden erleichtern die Ermittlungsarbeit auch in Fällen, bei denen die Datenbank keinen Treffer anzeigt.

Unser Genom besteht aus drei Milliarden Basenpaaren. Nur etwa drei Prozent davon kodieren für Genprodukte, wie z. B. Proteine. Noch viel weniger, nämlich nur knappe 0.5 % unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Eine Möglichkeit solche genetischen Unterschiede zur Differenzierung von Menschen zu nutzen, basiert auf den sog. Short Tandem Repeats (STRs). Das sind DNA- Abschnitte mit Wiederholungseinheiten von wenigen Basenpaaren.    

Short Tandem Repeat der Abfolge A-T, A-T, T-A, G-C (Adenin grün, Thymin rot, Guanin blau, Cytosin gelb)

Solche Abschnitte entstehen durch Mutationen, sind aber in der Regel nicht mit dem Auftreten von Krankheiten oder Störungen verbunden. In unserem Genom kommen mehrere hunderttausend solcher Wiederholungseinheiten vor. Wie ein Fingerabdruck sind sie typisch für einen speziellen Menschen. STRs werden weitervererbt. Das Ausmaß gemeinsamer Repeat-Abschnitte kann also den Verwandtschaftsgrad anzeigen.

Eine weitere personentypische Besonderheit in der DNA-Sequenz sind Unterschiede in einem einzigen Basenpaar, sog. Single Nucleotide Polymorphismen (SNPs).

Single Nucleotide Polymorphism am Beispiel von drei Varianten.
Single Nucleotide Polymorphism am Beispiel von drei Varianten: Person 1 (oben) trägt an der Stelle das Basenpaar Adenin-Thymin, Person 2 (Mitte) das Basenpaar Guanin-Cytosin und Person 3 (unten) das Basenpaar Thymin-Adenin.

Weil es viel zu aufwendig ist, das gesamte Genom zu analysieren, nutzt man den Vergleich von bestimmten Abschnitten, auf denen SNPs typischerweise vorkommen als Marker.

In der Forensik können je nach Fragestellung verschiedene Methoden zur Ermittlung herangezogen werden. Anhand von DNA-Spuren an Tatorten können Personen identifiziert oder es können Prognosen über Ihr äußeres Erscheinungsbild gegeben werden. Diese Verfahren sind Realfall aber bei weitem nicht so trivial wie sie erscheinen, denn oft sind die gefundenen Spuren in unzureichendem Maße vorhanden oder die Qualität der Probe ist mangelhaft.

Überblick über die forensischen DNA-Analyse-Methoden DNA-Profiling, DNA-Genealogie, DNA-Phänotypisierung
Überblick über die forensischen DNA-Analyse-Methoden DNA-Profiling, DNA-Genealogie, DNA-Phänotypisierung

DNA-Phänotypisierung

Die DNA- Phänotypisierung erfolgt über die Analyse von SNPs in den Genen, die für typische äußere Merkmale kodieren.

Seit 2019 ist es in Deutschland rechtlich möglich, anhand von DNA-Proben Aussagen über das äußere Erscheinungsbild einer Person zu treffen. Dabei können jedoch nur Rückschlüsse auf Pigmentierung von Haut und Haaren und auf die Augenfarbe gezogen werden. Die Testergebnisse werden als Wahrscheinlichkeitswerte ausgedrückt. Nicht für alle Merkmale gelten die gleichen Voraussagegenauigkeiten. So sind z. B. dunkle Haut oder blaue Augen mit höherer Wahrscheinlichkeit zutreffend als helle Haut oder dunkle Augen.

Eine Aussage über die biogeographische Herkunft von potenziellen TäterInnen ist in Deutschland nicht erlaubt. In speziellen Fällen macht die Justiz in Bayern jedoch Ausnahmen.

Informationen zum biologischen Alter dürfen hingegen gewonnen werden, auch wenn das nicht über die SNP-Marker analysiert werden kann. Zur Altersbestimmung nutzt man die Kenntnis, dass unsere DNA im Laufe der Zeit chemischen Veränderungen (Methylierungs-/ Demethylierungsreaktion v. a. an Cytosin in CpG-Dinukleotiden in Promoterregionen bestimmter Gene) unterliegen. Anhand dieser Veränderungen (dem Methylierungsmuster) kann in einer Altersspanne von 20–60 Jahren das biologische Alter von gesuchten Personen auf eine Genauigkeit von etwa fünf Jahren abgeschätzt werden. Bei jüngeren und älteren Menschen ist das Verfahren aufgrund von Wachstum oder vermehrtem Auftreten von Krankheiten zu störanfällig.

Keine Aussagen liefert die Phänotypisierung hinsichtlich der Körpergröße oder des Haarverlusts.

DNA-Profiling

Beim DNA-Profiling werden bis zu 20 Genabschnitte mit typischen Wiederholungseinheiten (STRs) analysiert. Dieser genetische Fingerabdruck wird dann mit Datensätzen aus einer Datenbank verglichen. Die gesuchte Person kann aber nur ermittelt werden, wenn ihre Daten aufgrund von älteren Straftaten in der Datenbank hinterlegt sind. Auch wenn es auf den ersten Blick wie Zufall erscheint, ob TäterInnen in einer Datenbank zu finden sind, so sind die Erfolge beachtlich: In etwa einem Drittel der untersuchten Fälle, waren TäterInnen bereits in der Datenbank erfasst. Das BKA verfügte 2020 über 870 000 Datensätze, das FBI über 14 Millionen!

Doch was, wenn die gesuchte Person nicht in der Datenbank zu finden ist? Und eine Phänotypisierung keine hilfreichen Daten liefert?

Forensische DNA-Genealogie

In solchen Fällen kann über Daten von biologischen Verwandten auf gesuchte Person rückgeschlossen werden. In einigen europäischen Ländern ist es bereits erlaubt, die Daten aus Ahnenforschungsdatenbanken für forensische Untersuchungen zu verwenden. Anbieter wie MyHeritage, FamiliyTreeDNA, AncestryDNA und andere verkaufen eine für deutsche Verhältnisse sehr spezielle Dienstleistung: Für etwa hundert Euro kann man auf Basis der eigenen DNA einen Stammbaum erstellen lassen, der viele Generationen zurückreicht. Wie im Film, per Wattestäbchen-Probe.

Nicht nur in den USA, wo sich mehr als 35 Millionen Menschen zur Ahnensuche per DNA-Vergleich entschlossen haben, sondern auch in Schweden und der Niederlande findet die Genealogie viele Fans. Dabei dürfte den meisten Menschen nicht klar sein, wie weitreichend sich genetische Informationen zurückverfolgen lassen. Wären die Sequenzen von nur einem Prozent der US-Amerikaner in der Datenbank, wären in Europa 90 Prozent der Verwandten dritten Grades darüber identifizierbar.

Die Suche nach der Identität von TäterInnen oder unidentifizierten Opfern wird durch die forensische Genealogie enorm erleichtert. Aber wie kommen die ErmittlerInnen von einem Datensatz zum anderen? Man muss sich die Verwandtschaftsbeziehungen wie einen Apfelbaum mit vielen großen und kleineren Ästen vorstellen. Die Suche ist wie der Weg von einem Apfel zu einem anderen im Baum.

Wenn man über die Datenbank eine Übereinstimmung zwischen der gesuchten Person und einer durch einen Datensatz bekannten gefunden hat, geht man ausgehend von der bekannten Person – dem Apfel den Baum rückwärts, von der Krone Richtung Stamm. Auf diesem Wege werden sich beide Datensätze genetisch immer ähnlicher. Irgendwann hat man so gemeinsame Vorfahren – einen gemeinsamen Ast – ermittelt und bewegt sich dann vorwärts bis zum Kreis der engsten Verwandten. Da die gesuchte Person – der zweite Apfel – selbst nicht in der Datenbank gelistet ist, liefert die Datenbank natürlich nur die nächsten Verwandten. Den Rest übernimmt die Polizei per Handarbeit. Geburtsregister, Meldeämter, Kirchenverzeichnisse und ähnliches geben Aufschluss über den engsten ermittelten Kreis um die gesuchte Person.

Wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht, wird es die Mehrheit der Bevölkerung wahrscheinlich durchaus in Ordnung finden, genetische Informationen zu Hilfe zu nehmen. Menschen, die endlich abschließen können mit quälenden Fragen, wenn TäterInnen gefunden oder Opfer identifiziert wurden. Familien, die Angehörige wiederfinden, die auf tragische Weise von ihnen getrennt wurden, Kinde, die ihre leiblichen Eltern kennenlernen können. Dieselben Daten jedoch in den Händen von rassistischen Fanatikern wären ein Albtraum. Auch diesen Fall gilt es zu bedenken.


Literatur:

  1. B. Brinkmann, Forensische DNA-Analytik, Dtsch. Aerztebl., 101 (34-35): 2329-2334, 2004.
  2. P. Schneider et al., The use of forensic DNA phenotyping in predicting appearance and biogeographic ancestry, Dtsch. Aerztebl. Int., 116: 873-880, 2019.
  3. M. Rauner, Schaurige Verwandtschaft, Zeit Wissen, 2/2021.
  4. https://geneticgenealogygirl.com/de/ (aufgerufen am 18.11.2022)

Element des Monats Oktober: Krypton

Den meisten fällt zu Krypton überhaupt nichts ein, einige wenige fabulieren über ferne Planeten und noch weniger finden es eigentlich ganz spannend, dass ein so selbstgefälliges Element wie Krypton eben doch manchmal zu was gut ist und sogar in Einzelfällen Verbindungen mit anderen Elementen eingeht – wenn auch nur unter Zwang…

Die Edelgase wurden im 19. Jahrhundert entdeckt. Schon damals war den Forschern klar, dass es sich dabei um äußerst unreaktive Bestandteile der Luft handelt. Krypton wurde nach Helium und Argon durch Destillation von flüssiger Luft von William Ramsay und Morris William Travers entdeckt.

„There remained […] a gas which showed besides the spectrum of argon a bright yellow and bright green line […] The new gas, which we named “krypton” or “hidden” was found to be […] when purified fourty times as heavy as hydrogen.” 

Sir William Ramsey in seiner Rede zum Nobelpreis über Entdeckung des Kryptons im Jahr 1894.

Die weiteren schwereren Edelgase folgten nur wenige Jahre später. 1900 wurde das radioaktive Element Radon entdeckt, das jedoch bis zum Jahr 1923 unter dem Namen Nito oder Radium-Emanation geführt wurde. In den frühen Zweitausendern kam letztendlich das kurzlebigste und schwerste Homologe Organesson dazu.

Vorkommen und Verwendung

Wie alle Elemente der achten Hauptgruppe ist auch das Krypton bei Standardbedingungen ein einatomiges Gas, das farblos und äußerst reaktionsträge ist. Es kommt in unserer Atmosphäre sehr selten vor: Nur etwa 1 Teilchen von einer Million Luftteilchen ist ein Krypton-Atom. In der Erdhülle ist das Element mit einer Häufigkeit von 1.9 • 10-5 ppm (parts per million) noch viel seltener. In anderen Teilen unseres Universums kommt es jedoch bedeutend häufiger vor. Die Anwendung von Krypton ist überschaubar. Es wird fast ausschließlich als Füllgas oder Zusatz in Glüh-, Halogen- und Leuchtstofflampen und in Geigerzählern verwendet. In Glühlampen z. B. setzt das Edelgas die Abdampfrate des Wolframs in der Glühwendel herab und ermöglich so höhere Glühtemperaturen.

Gasentladungslampen gefüllt mit den fünf Edelgasen.
Gasentladungslampen gefüllt mit den fünf Edelgasen (Quelle: Pslawinski, wikimedia)

Zur Untersuchung der Lungenventilation in der Computertomografie wird ein Gemisch aus Xenon und Krypton als Kontrastmittel eingesetzt, um die narkotisierende Wirkung des reinen Xenons zu begrenzen. Die Absorption von elektromagnetischer Strahlung wird auch im Flüssig-Krypton-Kalorimeter, einem Teilchendetektor, der am Genfer Forschungszentrum CERN zum Einsatz kommt, ausgenutzt. Das Kalorimeter ist hier ein Teil eines riesigen Detektorsystems, das zu Untersuchung extrem seltener Zerfallsreaktionen von Elementarteilchen benötigt wird.  

Verbindungen mit und ohne Bindung

Die Anzahl der „echten“ Verbindungen, in denen Krypton mit seinen Bindungspartnern mehr als nur eine recht unverbindliche Wechselwirkung eingeht, ist äußerst klein. Schon seit vielen Jahren ist die Verbindung Kryptondifluorid KrF2 bekannt. Ein extrem effizientes Oxidationsmittel. Neben der Fluorverbindung sind nur Verbindungen mit Kr–O- und Kr–N- Bindungen bekannt.

Mit den Krypton-Clathraten ist eine Fülle von physikalischen Verbindungen mit schwächeren Wechselwirkungen zu Krypton bekannt. In solchen Einlagerungsverbindungen ist das Edelgasatom in einer Art Käfigstruktur eingeschlossen. Im einfachsten Fall wird das Käfiggerüst aus Wassermolekülen gebildet. In Anwesenheit von Krypton, das sich leidlich gut (etwa 100 ml Gas in 1 l Wasser bei 0 °C) in gefrierendem Wasser löst, bildet Wasser nicht wie gewöhnlich eine hexagonale Eisstruktur, sondern eine kubische Struktur aus. Im kubischen Eis existieren zwar weniger Hohlräume, diese sind jedoch größer und können das große Krypton-Atom mit einem Van-der-Waals-Radius von 3.8 Å aufnehmen.

Ähnlich funktioniert die Einlagerung auch in Metallorganischen Gerüstverbindungen (MOFs), die so designt werden können, dass Poren und Kanäle ausgebildet werden, die gewünschte Größen und Formen aufweisen. Anwendung finden sie dann z. B. als Trennsystem für Xenon und Krypton.

In tiefen Gewässern und fernen Planeten

Die (geistige) Verbindung von Krypton mit Planeten und fernen Gestirnen ist kein reines Hirngespinst von Science-Fiction. Tatsächlich werden Proben von Asteroiden oder Gesteinsproben vom Mond auf ihren Krypton-Gehalt untersucht. Das Isotop 81Kr hat eine Zerfallszeit von 229 000 Jahren und lässt damit Untersuchungen zu, die weit außerhalb des zeitlichen Rahmens von 14C sind.

81Kr entsteht durch Wechselwirkung von stabilem Kr mit kosmischer Strahlung im oberen Atmosphärenbereich. Untersuchungen von Tiefengewässern und extraterrestischem Gesteinsmaterial lassen Rückschlüsse auf die Bildung der Erde und des Mondes zu. Es kam also durchaus von Vorteil sein, derart reaktionsträge zu sein.


Literatur:

  1. F. Aston et al., Report of the International Committee on Chemical Elements, J. Am. Chem. Soc., 45 (4): 867–874, 1923.
  2. Y. Oganessian et al., Synthesis of the isotopes of elements 118 and 116 in the 249Cf and 245Cm+48Ca fusion reactions, Phys. Rev. C., 74 (4): 44602–44602, 2006.
  3. D. Chon et al., Effect of low-xenon and krypton supplementation on signal/noise of regional CT-based ventilation measurements, J. Appl. Physiol., 102: 1535–1544, 2007.
  4. J. Brod, M. Gorbahn, Electroweak corrections to the charm quark contribution to K + → π + ν ν ¯ kaon-decay, Phys. Rev. D, 78 (3): 34006, 2008.
  5. J. F. Lehmann, The chemistry of Kr, Coord. Chem. Rev., 233:1-39, 2002.
  6. R. Barrer, D. Ruzicka, Non-stoichiometric clathrate compounds of water. Part 4: Kinetics of formation of clathrate phases, Transactions of the Faraday Society, 58: 2262-2271, 1962.
  7. C. Buizert, 81Kr dating identifies 120000-year-old ice at Taylor Glacier, Antarctica, Proc. Natl. Acad. Sci.U.S.A., 111 (9): 6876-6881, 2014.
  8. P. Will et al., Indigenous noble gases in the Moon`s interior, Sci. Adv., 8 (32): 2-8, 2022.

Element des Monats September: Indium

Das Element mit der Ordnungszahl 49 ist selten. Obwohl es sich auf den ersten Blick wie ein typisches Metall verhält, kann man ihm beim genaueren Hinsehen doch auch etwas Kovalentes und Ionisches abgewinnen. Indium ist eines der Elemente, bei dem Bindungstheorie spannend wird.

Das BIld zeigt reines, silbern glänzendes Metall
Das reine Metall ist weich und silbern glänzend. (Quelle: https://assignmentpoint.com/indium)

Indium ist ein typisch unedles Metall. Es glänzt silbern, ist weich und duktil. Es ist das weichste Metall, das wir in den Händen halten können. Es lässt sich leicht biegen und macht dabei ein merkwürdig knirschendes Geräusch, das an das bekannte „Zinngeschrei“ seines Nachbarelements erinnert. Indium schmilzt ab 157 °C und bleibt dann bis 2000 °C flüssig.

Von Indium sind 38 Isotope und 45 Kernisomere bekannt. Natürlich vorkommend sind 115In mit 66 Neutronen und einer Häufigkeit von 95,7 % sowie 113In (64 Neutronen) mit einer Häufigkeit von 4,3 %. Unter Normalbedingungen kristallisiert Indium in einer tetragonal verzerrten kubisch flächenzentrierten Struktur. Weitere Modifikationen sind nur unter hohen Drücken von mehr als 45 GPa bekannt.

Entdeckung und Vorkommen: selten, unedel, aber teuer

Das Schwermetall ist sehr selten. Seine Häufigkeit in der Erdkruste liegt bei 0,05 ppm. Indium wurde deshalb auch erst sehr spät entdeckt: 1863 stießen F. Reich und T. Richter von der Bergakademie Freiberg in Sachsen bei der Suche nach Thallium in einem Zink-Erz auf das Element. Seinen Namen verdankt Indium der indigoblauen Flammenfarbe. Diese kommt durch einen elektronischen Übergang vom 5p-Grundzustand in das 6s-Niveau des angeregten Zustands zustande und entspricht der Spektrallinie bei 451 nm, also blauer Farbe.

Indium kommt in Mineralien wie Indit (FeIn2S4) oder Roquestit (CuInS2) vor, die hauptsächlich in Canada, China und Peru abgebaut werden. In kleineren Mengen ist Indium auch in Zink-haltigen Erzen wie Sphalerit (ZnS) enthalten, die z. B. auch in Deutschland gefunden werden. Der Gehalt an Indium liegt jedoch im ppm-Bereich und der Abbau ist deshalb wenig lukrativ.

Die globale Verfügbarkeit aller In-Vorräte wird auf 11.000 t geschätzt, was Indium zu einem knappen Rohstoff macht. 2008 lag der recycelte Anteil erstmals über der Menge an neu gewonnenem Metall, was den Preis deutlich sinken ließ.

Zeitliche Entwicklung des Indium-Preises. Die Angaben beziehen sich auf die Preise pro kg und wertden in € angezeigt.
Die zeitliche Entwicklung des Indium-Preises. Die Angaben beziehen sich auf die Preise pro kg und wertden in € angezeigt. (Quelle: www.indium-preis.de)

Lange bedeutungslos, heute unverzichtbar

Die ersten Anwendungen des unedlen Metalls waren recht unspektakulär und standen in engem Zusammenhang mit seiner Weichheit und der Ungiftigkeit für den menschlichen Körper. So wurde es ab den 30-er Jahren in Zahnfüllungen oder zum Überzug von Legierungen verwendet. Speziellere und spannendere Anwendungen folgten im 21. Jahrhundert mit fortschreitender Entwicklung der Halbleitertechnik und Informationstechnologie. Heute wird Indium in Lasern und Leuchtdioden sowie in der Hochfrequenztechnik verwendet. Es ist Bestandteil der ITOs (Indium-Tin-Oxides), die als transparente leitende Materialien Anwendung in Touchscreens und flüssigkristallinen Bildschirmen finden. In jedem Smartphone sind mehrere Milligramm Indium verbaut. Auch in Dünnschichtsolarzellen, den CIGS (Kupfer-Indium-Gallium-Diselenide, CuInxGa1-xSe2) wird Indium verwendet.

Oxidationsstufen und ein Hauch von Bindungstheorie

Neben der für die dritte Hauptgruppe typische Oxidationsstufe +III sind auch Verbindungen mit einwertigem In bekannt. Die Ausbildung der s2-Kationen für In wird durch seine Stellung im Periodensystem gerechtfertigt. Innerhalb der Hauptgruppen werden niedrige Oxidationszahlen zu den schwereren Elementen hin stabilisiert. Die gemischt-valente Verbindung In2Br4 enthält Indium in beiden Oxidationsstufen.

Metallorganische Alkyl- oder Aryl-Verbindungen sind nur von In+III stabil. Analoge In+I-Verbindungen disproportionieren schon unterhalb von Raumtemperatur. Auch einige In+II– Verbindungen mit In-In-Einfachbindungen sind bekannt, sie benötigen allerdings eine hohe sterische Abschirmung, sonst findet auch hier eine Disproportionierung statt. Insgesamt ist die In-C-Bindung nicht sonderlich stabil und thermische Zersetzung erfolgt oft schon bei moderaten Temperaturen.

In Gruppe 13 des Periodensystems findet der Übergang von Nichtmetallen zu Metallen statt. Das leichteste Element dieser Gruppe, das Bor, ist ein typisches Nichtmetall. Die schwereren Homologen sind Metalle, also typische Kationenbildner. Salzartige Verbindungen wie InBr3 sind aus den Elementen darstellbar.

Daneben existieren aber auch viele Indium-Bromide und Iodide mit kovalenten In-In-Bindungen.

In zahlreichen intermetallischen Phasen wie z. B. CaIn oder CaIn2 tragen dier Indium-Atome gar negative Ladungen. Die Art der Bindung nicht mehr mit den einfachen Bindungskonzepten zu erklären.

Die Kristallsturkturen von CaIn und CaIn2.
Die Kristallsturkturen von CaIn (links) und CaIn2 (rechts). Die Indium-Atome sind in blau, die Calcium-Atome in gelb dargestellt.

In der Struktur von CaIn (Struktur rechts) sind kleine isolierte In-Einheiten zu erkennen. In diesen Vierringen ist jedes Indium-Atom zweibindig. Die formale Ladung ist nicht so einfach zu bestimmen. Eine ionische Zerlegung nach dem Zintl-Konzept erklärt die Ladungsverteilung nicht: 4 CaIn à 4 Ca2+ + [In4]12- – 4 e

Durch eine solche Zerlegung bleibt ein Elektronenmangel von 4 ebestehen, der durch die Ca-Kationen nicht ausgeglichen werden kann.

Für Vertreter des CaIn2-Strukturtyps (Struktur links) funktioniert die ionische Zerlegung. Die vierbindigen In-Atome sind formal einfach negativ geladen.

Die beiden Beispiele zeigen, dass eine einfache Aussage über die Bindungsverhältnisse anhand der Summenformel nur für echte Salze funktioniert. Anhand der intermetallischen Indium-Verbindungen können spannende Untersuchungen der elektronischen Struktur angestellt werden, die durch quantenchemische Rechnungen ergänzt werden. Die Vielfalt dieser Verbindungen füllt ganze Doktorarbeiten…


Literatur:

  1.  W. Uhl, Indium – selten und wichtig, in: Chemie der Elemente (GdCh Hrsg.), S. 39-41 Frankfurt 2019.
  2. https://www.institut-seltene-erden.de/seltene-erden-und-metalle/strategische-metalle-2/indium
  3. A. Hollemann, N. Wiberg, Lehrbuch der anorganischen Chemie, Band 1, 103. Auflage, De Gruyter 2017.

Das Gen-Taxi fährt mit GPS

Als Gen-Taxis werden funktionale Polymere bezeichnet, die Wirkstoffe umhüllen und zielsicher zu bestimmten Zellen transportieren. Die Herausforderungen im Design solcher Transportmoleküle liegt nicht nur im eigentlichen Transport, sondern auch in Aufnahme ins Zellinnere und der Freisetzung des Wirkstoffs.

Gegen Infektionen und Entzündungsprozesse existieren bereits eine Reihe von guten Wirkstoffen. Diese wirken allerdings systemisch auf den ganzen Körper. Es werden deshalb relativ hohe Dosen verabreicht, um auch am Infektionsort eine Wirkung zu erzielen. Das ist mit manchmal mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden. Um Wirkstoffe gezielt an den Infektionsort zu bringen, verfolgt der Ansatz der Gen-Taxis eine clevere Strategie.

Es ist kein revolutionärer mensch-gemachter Ansatz, sondern eine Kopie dessen, was in der Natur seit jeher und ständig passiert. Hier sind es Viren, die ihren „Wirkstoff“, ihre eigene Erbsubstanz, in unsere Zellen einschleusen. Trotzdem ist die Entwicklung von ähnlichen Transportmolekülen kein Kinderspiel.

Im Falle der Gen-Taxis sind die Taxis an sich Polymere wie z. B. die jüngst bekannt gewordenen Lipid Nanopartikel (LNPs). Dr. Anja Träger vom Jena Center for Soft Matter entwickelt solche polymeren Nanotransporter. Neben genetischem Material wie DNA oder RNA können aber auch Proteine oder kleinere Wirkstoffmoleküle als Fahrgäste in den Taxis fungieren.

Die Polymere haben einen Durchmesser von etwa 100 nm und sind damit 500-mal dünner als ein menschliches Haar. Die Ansprüche an die Transportmoleküle sind hoch: Sie müssen ihren Inhalt stabil und zuverlässig verpacken, der Transport muss direkt und ohne Umwege von statten gehen und es muss möglich sein, bestimmte Zelltypen zu adressieren. Von einer Wirkung auf das Immunsystem sollen z. B. Muskelzellen unbehelligt bleiben. Die Transportmoleküle müssen auf dem Weg zu ihren Zielzellen vom Immunsystem unbemerkt bleiben, dürfen nicht mit Blutproteinen wechselwirken, enzymatisch abgebaut werden und sollen eine gute Wasserlöslichkeit zeigen. Zudem müssen sie so beschaffen sein, dass ihr Inhalt am Zielort einfach und vollständig ausgepackt werden kann. Dann hätten sie ihre Funktion erfüllt und könnten abgebaut werden. Dabei ist wichtig, dass sie sich zu gesundheitlich unbedenklichen Einzelteilen zersetzen lassen.

Um selektiv und spezifisch am Zielort einzugreifen, kann z. B. der Stoffwechsel von Zellen ausgenutzt werden. Die Nanotransporter werden dann gezielt mit einem Nährstoff ausgestattet, der für bestimmte Zelltypen spezifisch ist. Diese und andere Strategien gewährleisten, dass die Wirkstoffe direkt da ankommen, wo sie gebraucht werden und sind quasi das Navigationssystem der Gen-Taxis.

Die Bindung des Wirkstoffs an das Polymer findet im Falle von Nukleinsäuren über die ionische Wechselwirkung der negativ geladenen Phosphatreste an die positiv geladenen Polymermoleküle statt.   

Der Transport ins Zellinnere findet über Endosomen statt. Das sind membrangebundene Zellorganellen, die in einem ersten Schritt mit der Oberfläche der Transportpolymere wechselwirken. In einem zweiten Schritt wird die Membran an dieser Stelle eingestülpt und in einem dritten Schritt abgeschnürt. Das mit Wirkstoff beladene Polymer befindet sich nun in einem Vesikel im Zellinneren.

Schematische Darstellung der Aufnahme von Substanzen durch Endozytose
Schematische Darstellung der Aufnahme von Substanzen durch Endozytose (Quelle: Wikipedia)

Doch damit ist die Reise des Wirkstoffs durch den Körper noch nicht ganz beendet, es muss noch aus dem Transportmolekül ausgepackt werden. An den Mechanismen der Freisetzung (endosomal escape) und der Beeinflussung dahin, dass Wirkstoffe schnell und effizient in der Zelle verfügbar sind, forscht auch die Arbeitsgruppe von Anja Jäger. Dafür werden unterschiedliche Polymer-Systeme getestet, die über hydrophobe Interaktionen, pH-Wert abhängige Mizellen oder auch pH-unabhängige Polymere, die auf Aminen basieren, funktionieren. Ob und wann ein Wirkstoff in den Zellen freigesetzt wird, wird über einen Farbstoff im Inneren des Transportmoleküls elektronenmikroskopisch verfolgt.

Die Weiterentwicklung der Gen-Taxis ist also bei weitem nicht abgeschlossen und auch wenn das System um das PEG-Polymer gut etabliert ist, wird es in Zukunft Alternativen geben.


Literatur:

  1. H. Shete et al., Endosomal escape: a bottleneck in intracellular delivery, J. Nanosci. Nanotechnol., 14 (1): 460-474, 2014.
  2. F. Richter et al., Tuning of Endosomal Escape and Gene Expression by Functional Groups, Molecular Weight and Transfection Medium: A Relationship Study, J. Mater. Chem. B, 8: 5026-5041, 2020.
  3.  T. Bus et al., The Great Escape: How Cationic Polyplexes Overcome the Endosomal Barrier, J. Mater. Chem. B, 6: 6904-6918, 2018.

Element des Monats August: Quecksilber

Quecksilber ist zweifellos eines der bekanntesten Elemente des Periodensystems. Lange geliebt, oft bewundert, gebraucht und missbraucht, und heute schließlich verpönt, blickt das „flüssige Silber“ auf eine lange und enge Bindung zur Menschheit zurück.

silbern-glänzende Quecksilber-Tropfen
Elementares Quecksilber (Quelle: Fotolia.com)

Schon in seinem Namen offenbart das Element Quecksilber seinen sonderbaren Charakter: Das chemische Symbol Hg steht für Hydragyrum (griechisch:  Wassersilber) und wurde auch als Argentum vivum, als lebendiges Silber bezeichnet. Im Englischen wird es neben Mercury auch Quicksilver – schnelles Silber – genannt.

Ungewöhnliche Eigenschaften

Wer schon einmal gesehen hat, wie kleine Kügelchen des glänzenden Metalls auf glatten Oberflächen fließen, der wird den Namen flüssiges Silber nur allzu treffend finden. Quecksilber ist das einzige Metall, das bei Raumtemperatur in flüssigem Zustand vorliegt. Es bildet in elementarer Form silbern glänzende Kugeln, die beim Aneinanderstoßen miteinander verschmelzen. Der bei Raumtemperatur flüssige Zustand ist tatsächlich ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Metalle, insbesondere glänzende Edelmetalle, sind gewöhnlich erst bei mehreren Hundert, oft sogar erst über 1000 °C flüssig.

Der Aggregatzustand ist jedoch nicht die einzige Absonderlichkeit, die Quecksilber zu bieten hat. Aufgrund der hohen Oberflächenspannung fließt es über glatte Flächen, ohne diese zu benetzen. Eine Flüssigkeit, die keine Flecken hinterlässt.  Auch die hohe Dichte der Flüssigkeit überrascht: ein Liter Quecksilber wiegt fast 15 kg! Heute werden ungewöhnliche physikalische Eigenschaften jedoch nicht mehr mystifiziert, sondern nüchtern erklärt. Was das Interesse an ungewöhnlichen Elementen jedoch nicht schmälert. Mit der Ordnungszahl 80 gehört Hg zu den schweren Elementen, auf die sich relativistische Effekte besonders stark auswirken. Aufgrund der Lanthanoiden-Kontraktion ist die hohe Kernladung weniger effektiv abgeschirmt als bei den leichteren Homologen der Gruppe 12. Besetzte Orbitale, wie auch das Valenzband liegen deshalb im Vergleich zu Zn und Cd näher am Kern, was das Fermi-Niveau absenkt und die Bandlücke vergrößert. Daraus resultieren eine schwache Metall-Metall-Bindung, schlechte elektrische Leitfähigkeit und eine vergleichsweise hohe Flüchtigkeit. Rechnerische Analysen zeigen, dass die Auswirkung relativistischer Effekte den Schmelzpunkt von Hg um etwa 100 Kelvin erniedrigen.

1911 entdeckte der niederländische Forscher Heike Kamerlingh Onnes eine andere wirklich großartige Eigenschaft des Quecksilbers. Das Metall, das bei Raumtemperatur den elektrischen Strom eher schlecht leitet, wird beim starken Abkühlen mit flüssigem Helium auf -269 °C zum perfekten Leiter. Mit der Entdeckung der Supraleitfähigkeit tat sich ein Forschungsfeld auf, das auch heute noch viele WissenschaftlerInnen umtreibt.

Früh gekannt, in Fülle genutzt… Schon in der Antike kannte und nutze man gelbe und rote quecksilberhaltige Pigmente (HgO und HgS). Sehr hohe Quecksilber-Konzentrationen wurden in Mayastätten wie Tikal gefunden. Es ist erwiesen, dass das Quecksilber aus dem roten Zinnober (HgS) ins Trinkwasser freigesetzt wurde.

Qin Shi Huang, der erste Kaiser Chinas, 259-210 v. Chr. (Quelle: J. Clements,
The First Emperor of China, Sutton Publishing, Cheltenham 2006.)

Der Legende nach soll es im Grabmal des ersten chinesischen Kaisers Flüsse aus Quecksilber gegeben haben, die die Weltmeere symbolisieren sollten. Ob die Legende stimmt, oder ob sich die Überlieferungen damit vermischen, dass der größenwahnsinnige Kaiser den Tod mit quecksilberhaltigen Zaubertränken überwinden wollte, ist unklar. Fakt ist jedoch, dass er das „Elexier der Unsterblichkeit“ kaum überleben hätte können. Denn: nahezu alle Quecksilberverbindungen sind hoch toxisch. Um das Jahr 1000 gab es in den Palästen der Kalifen in mehreren arabischen Städten mit Quecksilber gefüllte Becken oder Springbrunnen, die für das Spiel mit Lichtwirkungen genutzt wurden, auch über Quecksilber-Bäder wird berichtet.

Hg in der Medizin- ein Teufelszeug der Alchemisten?

Ab dem Mittelalter hielt man es jahrhundertelang für gute medizinische Praxis, allerlei Krankheiten mit Quecksilber oder Quecksilberverbindungen zu behandeln. Paracelsus wandte HgCl2-Lösungen als Abführmittel an und behandelte Syphilis mit quecksilberhaltigen Salben. In seinen Lehren wird dem Quecksilber eine zentrale Rolle zugeschrieben, denn zusammen mit Schwefel und Salz als sog. nicht-stoffliche Elemente baut es den menschlichen Körper auf. Schwefel symbolisiert das Brennbare, die Seele, das Quecksilber die Flüchtigkeit, der Lebens-Geist und das Salz das Beständige, den Körper selbst. Durch Ungleichgewichte zwischen den Dreien entstehen nach alchemistischer Auffassung Krankheiten, die durch Gabe des fehlenden Stoffes ausgeglichen wurden.  

Paracelsus, 1493-1541 (Quelle: Pharmaziemuseum der Universität Basel)

Wer denkt, dass Quecksilber nur Alchemisten, Mittelalter-Quacksalbern und Badern vorbehalten war, der fehlt. Auch in der modernen Medizin hat Quecksilber eine Verwendung, wenngleich die Anwendung und vor Allem auch die Dosierung mittlerweile stark reduziert sind. Bis 2003 wurde das Antiseptikum Mercurochrome vermarktet, das wie der Name schon sagt, Quecksilber enthielt. Auch Zahnfüllungen aus Amalgam waren bis vor einigen Jahren Standard. Amalgame sind Legierungen des Quecksilbers, bei Zahnfüllungen beträgt der Hg-Gehalt stolze 60 %. Wie genau sich die intermetallischen Verbindungen im Laufe der Zeit verändern ist nicht genau bekannt. Geklärt ist hingegen, dass es sich beim Hauptbestandteil der Dentalfüllungen um die Phase Ag2Hg3 handelt. Auf Beschluss der EU-Kommission wird die Verwendung von zahnärztlichem Amalgam seit Juli 2018 jedoch minimiert, bis 2030 soll über ein evtl. Verbot entschieden werden. Aktuell stecken in den Mündern von EU-Bürgern aber noch 1.300 bis 2.200 Tonnen des giftigen Metalls und ein durchschnittlicher Erwachsenenkörper enthält, ohne Zahnfüllungen, etwa 6 g Hg.

Obwohl in den westlichen Ländern ein erhöhtes Bewusstsein für die Giftigkeit des Quecksilbers existiert, herrscht weitgehend Stillschweigen über die Emissionsquellen. 20 % des weltweit durch menschliche Aktivitäten emittierten Quecksilbers fallen allein als Abfallprodukt bei der Verbrennung von Kohle zur Stromerzeugung an. In Deutschland sind das jährlich etwa 7 Tonnen Quecksilber! Auch durch Müllverbrennung und Vulkanausbrüche wird das Metall freigesetzt. Global gelangen jährlich bis zu 30 Tonnen Hg in die Atmosphäre, werden irgendwann abgeregnet und reichern sich in Gewässern an. Über Algen und Fische landet das Metall schließlich dann auf unseren Tellern. Einige Fische, wie z. B. Thunfisch, Hecht oder Hai enthalten besonders viel Quecksilber. Diese hohen Konzentrationen schädigen die Tiere selbst wohl deshalb nicht, weil sie ebenso hohe Konzentrationen von Selen enthalten. Selen hat eine hohe Hg-Affinität und wirkt somit als Quecksilber-Antagonist.

Macht wirklich nur die Dosis das Gift?

Die Toxizität von Quecksilber sollte nicht pauschalisiert werden. Es kommt nämlich nicht nur auf die Dosis, sondern auch darauf an, wie und in welcher Form das Schwermetall aufgenommen wird.

„Little Willie from his mirror
Licked the mercury right off,
Thinking in his childish error,
It would cure the whooping cough.
At the funeral his mother
Brightly said to Mrs. Brown:
`Twas a chilly day for Willie
When the mercury went down.´”

(Harry Graham, Ruthless Rhymes for Heartless Homes, 1899)

Quecksilber kommt in Dentalfüllungen vor, in elektrischen Schalter, in Leuchtstoffröhren, in Xenon-Scheinwerfern, in Energiesparlampen, bei der Chlor-Alkali-Elektrolyse und beim Gold-Abbau z. B. in Peru oder auf den Philippinen.

Elementares Quecksilber ist ungeladen und oberhalb von -39 °C flüssig. Wie alle Flüssigkeiten kann auch das Metall langsam verdampfen und wird so über die Atemwege aufgenommen. Viel gefährlicher sind allerdings die Quecksilber-Dämpfe, die bei Erhitzen des Metalls entstehen. Seit 2011 gilt ein MAK-Wert (Maximale Arbeitsplatz-Konzentration) von 0,02 mg Hg/m³ Luft, die Resoptionsrate liegt bei 80 %.

Quecksilber passiert die Blut-Hirn-Schranke und ruft bei hohem Dosen Schädigungen des zentralen Nervensystems hervor. Akute Vergiftungserscheinungen sind Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Zittern, Orientierungslosigkeit und Krämpfe. Bei chronischer Exposition manifestieren sich die neurokognitiven Störungen, Schädigungen vor allem des Gehirns können irreversibel sein.

Als anorganisches Quecksilber wird meist das zweiwertige Kation bezeichnet, obwohl Quecksilber auch in der Oxidationsstufe +I auftreten kann. Aufgrund der Elektronenkonfiguration 5d106s2 ist vor allem die Oxidationsstufe +II stabil. Einwertiges Hg wird durch die Ausbildung von Hg-Hg-Bindungen stabilisiert. In Salzen kommen typischerweise [Hg-Hg]2+-Hanteln vor.

Quecksilbervergiftungen kommen heutzutage fast immer über Kontakt mit gelösten Quecksilbersalzen oder Quecksilberverbindungen vor. Oral oder über die Haut aufgenommen, akkumuliert das Metall in Niere und Leber, verursacht nach Verschlucken Darmschädigungen und ruft die gleichen Vergiftungserscheinungen hervor, wie elementares Quecksilber. Allerdings beträgt die Resorption bei oraler Aufnahme nur etwa 10 %, die letale Dosis liegt bei etwa 1 Gramm. Nochmals höhere Werte gelten für die subkutane Aufnahme.

Bereits im 18. Jahrhundert kannte man das Krankheitsbild des Erethismus mercurialis, des Hutmachersyndroms. Hutmacher waren berufsbedingt täglich hohen Hg-Konzentrationen ausgesetzt, weil Felle und Filze mit Quecksilbersalzlösungen behandelt wurden. Auch der verrückte Hutmacher aus Alice im Wunderland (Lewis Carrol 1865) wird als leicht reizbare Person mit ständig wechselnden Stimmungslagen beschrieben. Bis in die 90-er Jahre waren HgCl-haltige Vaginalzäpfchen auf dem Markt, die der Empfängnisverhütung dienten. Die Wirkung als Spermizid beruht auf der Hohen Bindungsaffinität des Quecksilbers zu Schwefel und damit zu SH-Gruppen in Proteinen. Auch eine Schädigung der DNA wird beschrieben.

Als organisches Quecksilber sind vor allem die Verbindungen Methylquecksilber (MeHg+) und Dimethylquecksilber (Me2Hg) von Bedeutung. Ihre Toxizität ist seit 1863 bekannt. Es liegt eine hohe Resorption der Verbindungen über die Atemwege und die Verdauungsorgane vor. Methylquecksilber entsteht durch mikrobielle Methylierung z. B. aus natürlichen Quecksilbervorräten im Meeresboden. Bereits kleine Dosen sind sehr giftig und verbleiben über Jahrzehnte im Körper. Methylquecksilberverbindungen erlangten in den 50-er Jahren traurige Berühmtheit, weil sie im japanischen Minamata das Grundwasser vergifteten. Verantwortlich für die Umweltkatastrophe, die Tausenden von Menschen das Leben kostete, war eine Chemiefirma, die ihr Abwasser in die Flüsse leitete.

Um Vergiftungen zu vermeiden, werden im kritischen Expositionsfall als Quecksilberfänger sog. Mercaptane eingesetzt. Schwefelhaltige Komplexliganden wie 2,3-Dimercapto-1-propansulfonsäure (DMPSO) und meso-2,3-Dimercaptobernsteinsäure binden Hg und beschleunigen die Ausscheidung. Hierbei wird die Bindungsaffinität zu Schwefel ausgenutzt. Auch selenhaltige Präparate sind wirkungsvoll.

Obgleich heute alles Mystische und Kuriose über das einst so rätselhafte Element aufgeklärt ist, scheint ein böser und unheilvoller Schatten um das Element geblieben zu sein. Immer wieder wird Quecksilber in verquere Zusammenhänge verstrickt. Der Hg-haltige Konservierungsstoff Thiomersal in früheren Impfstoffen soll Autismus bei Kindern hervorrufen und auf alternativmedizinischen Internetseiten wie z. B. Zentrum der Gesundheit finden sich allerlei merkwürdige Präparate zur Ausleitung von Quecksilber im Körper. Eine Korianderkur ist zwar sicherlich nicht schädlich, jedoch gibt es keinerlei Belege für die Wirksamkeit und es impliziert, dass der Umgang mit ernst zu nehmenden Vergiftungen laienhaft betrieben werden kann.


Literatur:

  1. F. Calvo et al, Evidence for Low-Temperature Melting of Mercury owing to Relativity, Angewandte Chemie International 52, 2013.
  2. H. Dopsch, Paracelsus – Arzt, Philosoph oder Goldmacher? In: U. Müller und W. Wunderlich, Künstler, Dichter, Gelehrte. Mittelalter-Mythen. Band 4. UVK, Seite 950 ff, Konstanz 2005.
  3. W. Heinz: Die gelehrte Medizin zwischen Mittelalter und Humanismus. Wo steht Paracelsus? In: A. Classen: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen.,S. 151–174, Berlin 2010.
  4. MAK Value Documentation in German language, Quecksilber und anorganische Quecksilberverbindungen, 2002.
  5. https://www.institut-seltene-erden.de/seltene-erden-und-metalle/strategische-metalle-2/quecksilber
  6. C. Hoch, Mein Lieblingselement: Quecksilber, Nachrichten aus der Chemie 67: 54-60, 2019.
  7. T. Syversen, P. Kaur; Die Toxizität des Quecksilbers und seiner Verbindungen, Perspectives in Medicine 2:133-150, 2014.
  8. https://www.uni-heidelberg.de/presse/news2013/pm20130827_quecksilber.html
  9. https://www.srf.ch/kultur/kunst/kaiser-qin-reformen-quecksilber-und-8000-terrakotta-krieger